Pressemitteilung 04.11.2020 Wentorf bei Hamburg
7842 Zeichen (o.L.),1125 Wörter, 25 Absätze, 2 Seiten, 1 Foto.
Der Kampf für ein Leben in Würde geht für die letzten Überlebenden des Blutskandals (vormals bekannt als Blut-AIDS-Skandal) in die nächste Runde.
Mit einer ungewöhnlichen Briefaktion macht der Verband der Opfer des Blutskandals VOB e.V. auf ihre prekäre Lage aufmerksam und wendet sich persönlich an alle 708 Bundestagsabgeordneten. Nach 40 Jahren Leben mit AIDS und Hepatitis-C sind die Überlebenden mit ihrer Kraft am Ende, sie sind auf die Unterstützung jedes einzelnen Parlamentariers angewiesen. Es geht um die dringende Anpassung des für sie zuständigen Stiftungsgesetzes „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“ an die sich dramatisch verschlechternden Lebensbedingungen der Geschädigten.
Briefaktion Kernstück der in vielerlei Hinsicht gewichtigen Briefe - sie wiegen insgesamt 90 Kilo - ist eine eigens zu diesem Zweck verfasste Mappe mit dem Titel Aktueller Einblick in die Lebensumstände und Forderungen der Opfer des Blutskandals. Anhand von persönlichen Erfahrungsberichten und medizinischen Hintergrundinformationen zu körperlichen und psychischen Spätfolgen der HIV-und Hepatitis-C Infektionen, können sich die Empfänger eingehend informieren. Hinzuweisen ist auf die erschütternden Ergebnisse der vom Bundesgesundheitsministerin beauftragten Prognos-Studie von 2014 und auf den darauf bauenden Forderungskatalog an die politischen Entscheider.
Michael Diederich, Vorstandsvorsitzender vom VOB e.V., Vater einer zweijährigen Tochter, an AIDS und den Folgen der Hepatitis-C erkrankt, erläutert: „In der Mappe steckt unser Herzblut. Die Briefe werden im November im Bundestag eintreffen. Wir machen uns nichts vor. Aber wir hoffen, dass wir wenigstens einige Bundestagsabgeordnete von unserem Anliegen überzeugen können und sie uns dabei helfen, eine Gesetzesinitiative anzustoßen“.
Blutskandal In den 80er Jahren wurden durch verunreinigte Blutprodukte unzählige Menschen mit Hämophilie (Gerinnungsstörung) und während operativer Eingriffe mit HI- und/oder mit Hepatitis-C-Viren infiziert. Trotz bereits möglicher Sterilsierungsverfahren wurden die Patienten aus Kostengründen jahrelang mit kontaminierten Blutprodukten versorgt. Pharmakonzerne, das Bundesgesundheitsamt, das Deutsche Rote Kreuz und die behandelnden Ärzte verantworteten die daraus resultierenden, katastrophalen Folgen: Tausende erkrankten an AIDS, woran die meisten nach qualvollem Leiden verstarben.
Der Bundestag richtete 1993 den Untersuchungsausschuss HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte ein. Dieser stellte 1994 in seinem Abschlussbericht fest, „dass es sich um „nachweisbar schuldhaftes Verhalten“ der beteiligten Stellen gehandelt habe und dass rund 60 % der durch kontaminierte Blutprodukte ausgelösten HIV-Infektionen hätten verhindert werden können.
Stiftungsgesetz „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“. Das Stiftungsgesetz wurde 1995 unter der Leitung des damaligen Gesundheitsministers Horst Seehofer erlassen, nachdem er das Bundesgesundheitsamt aufgelöst und sich für das schuldhafte Verhalten der staatlichen Aufsichtsbehörde entschuldigt hatte. Die Verantwortlichen des Blutskandals wurden dazu angehalten, in den HIV-Hilfefonds einzuzahlen, um die Opfer zu entschädigen und den Angehörigen die Beerdigungskosten zu erstatten.
Fatal war, dass das Stiftungsgesetz keinen rechtlichen Anspruch auf lebenslange Entschädigungszahlungen enthielt. Denn keiner - am wenigsten die Betroffenen selbst - konnte sich damals vorstellen, diese schwerwiegenden Infektionen zu überleben. Das führte dazu, dass der HIV-Hilfefonds immer wieder nur auf Drängen und Bitten von Betroffenen gemeinsam mit einzelnen, engagierten PolitikerInnen aufgefüllt wurde. Mittlerweile sind die Pharmakonzerne sowie das DRK aus ihrer Verantwortung entlassen und die Bundesregierung alleinige Zustifterin des HIV-Hilfefonds.
Prognos-Studie 2013 wurden die LeistungsempfängerInnen zur Teilnahme an einer umfangreichen Studie gebeten, die von Prognos im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit durchgeführt wurde. Ausdrückliches Ziel war, die Lebenssituation insbesondere unter gesundheitlichen Aspekten zu erfassen, um das Stiftungsgesetz den Bedarfen der Geschädigten anzupassen. Mit der Aussicht auf ein verbessertes und auf ihre Bedarfe zugeschnittenes Stiftungsgesetz, war die Resonanz bei den StudienteilnehmerInnen hoch. Die Ergebnisse waren niederschmetternd und übertrafen sogar die Befürchtungen vieler Geschädigter. Die meisten der 45 bis 75 Jährigen können nicht mehr für ihren Lebensunterhalt sorgen und leiden unter gravierenden, gesundheitlichen und psychischen Problemen, die sich mit zunehmendem Alter verschlimmern.
Stiftungsrat und Stiftungsvorstand unter Jens Spahn, damals amtierender Vorsitzender, zeigten sich bestürzt und versprachen umgehend zu helfen, wie dieser Auszug aus der Pressemitteilung der Stiftung Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen vom 19.05.2014 belegt:
„Aufgrund der Ergebnisse hat der Stiftungsrat folgenden Entschließungsantrag gestellt und beschlossen: Stiftungsrat und Stiftungsvorstand begrüßen die Studie zur Lebenssituation der Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger der Stiftung "Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen" und stehen voll hinter den Schlussfolgerungen von Prognos. - Stiftungsrat und Stiftungsvorstand gehen davon aus, dass wie bei der Conterganstiftung alle Verantwortlichen schnell und umfassend aktiv werden, damit die finanziellen Grundlagen der Stiftung nachhaltig gesichert werden“. Es blieb bei diesem bloßen Versprechen. Als Aktivisten konkrete Konsequenzen forderten, wurde die Studie einschließlich der Ergebnisse von der Webseite des Bundestags entfernt. Kein Abgeordneter hätte eine Chance gehabt, sich zu informieren.
Erst 2017 wurde eine Minimalforderung umgesetzt und das Stiftungsgesetz erfuhr ihre I. Novelle, nämlich die mit HI-Viren Geschädigten lebenslang zu entschädigen. Das aber nur, weil der VOB e.V. gemeinsam mit der Blutskandal-Kampagne in Berlin gegen diese Ungerechtigkeiten demonstrierten und unterstützende PolitikerInnen für ihre Ziele gewinnen konnten. Dies war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wesentliche Grundlagen für ein angemessenes Gesetz fehlen noch.
Was wird absolut benötigt?
- Anpassung der Entschädigung der HIV-Infizierten unter Berücksichtigung des Inflationsausgleichs für den Zeitraum 1995 bis 2019
- Lebenslange Entschädigung der mit Hepatitis-C Infizierten
- Sonderzahlungen zur Deckung der spezifischen, gesundheitlichen Bedarfe
- Aufbau eines Medizinisches Kompetenzzentrums bzw. -netzwerks
- Mitbestimmung der LeistunsempfängerInnen im Stiftungsvorstand und Stiftungsrat
Corona Was es heißt, von unbekannten, tödlichen Viren aus der Bahn geworfen zu werden, wissen die Opfer des Blutskandals nur zu gut. Erst wurden sie mit HI-und Hepatitis-C Viren infiziert; nun werden sie durch Corona-Viren gefährdet.
Der ohnehin schon komplexe Lebenslauf von Thomas Gabel, Vorstandsmitglied des VOB e.V., gipfelt in seiner Corona-Infektion, den er mit folgenden Worten abschließt: „Dies wurde noch verstärkt durch die Covid-19, die ich Mitte März 2020 durchgemacht habe. Das SARS-Cov-2 hat mein Herz zusätzlich angegriffen, so dass nun eine Herzinsuffizienz besteht. Ich habe sicher vieles vergessen. Aber das, was hier steht, ist ja auch genug. Bitte nehmen Sie uns ernst. Wir, die Leistungsempfänger, haben alle einen ähnlichen Status. Keinem von uns geht es gut. Auch nicht denen, die sich nicht zu Wort melden. Die sind meist in ihrer Angst vor Diskriminierung gefangen und leiden still“.
Die Briefaktion des VOB.e.V. ist auch dieser besonderen Lage geschuldet, denn die gesundheitlich angeschlagenen Opfer des Blutskandals sind Risikopatienten und vermeiden Reisen und Begegnungen.
Dass die beiliegende Mappe auch Auszüge aus der Prognos-Studie enthält, hat einen triftigen Grund: Erneut ist der Abschlussbericht von der Homepage des Bundesgesunheitsministeriums verschwunden. Da dieser aber die Grundlage für eine II. Gesetzesnovelle bildet, erhalten nun alle Bundestagsabgeordneten mit dem Brief die fehlenden Informationen. Das erhöht die Chance auf eine Gesetzesinitiative.
Die II. Novellierung des Stiftungsgesetzes ist unabdingbar. Damit die noch 534 Lebenden einfach nur in Würde alt werden können.
V.i.S.d.P. Cornelia Michel - Pressesprecherin des Verbands der Opfer des Blutskandals VOB e.V. - www.nochleben.de - cornelia.michel@nochleben.de - Fon +49 157 56182389 - Mühlenstraße 32 - 21465 Wentorf bei Hamburg